Die Corona-Pandemie sowie auch die vielen Hochwassersituationen in den letzten Jahren haben eindrücklich aufgezeigt, wie wichtig es ist, dass sich auch Langzeitpflegeeinrichtungen in Deutschland auf Krisensituationen vorbereiten. Beim Fachgespräch „Krisenresilienz in der Langzeitpflege nach § 113 SGB XI - Umsetzungsstand, Herausforderungen und Lösungsperspektiven“ am 27. November im Bundesministerium für Gesundheit wurde mit Expertinnen und Experten aus der Praxis, aus Verbänden und Wissenschaft sowie aus Institutionen und Behörden mit Bezug zum Katastrophenschutz darüber diskutiert, wie die Vorbereitung auf Krisen in Pflegeeinrichtungen gelingen kann.
Seit Ende 2022 sind die durch den Qualitätsausschuss Pflege um flexible Maßnahmen zur Qualitätssicherung in Krisensituationen erweiterten Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität (MuG) in Kraft. Seitdem sind alle zugelassenen Pflegeeinrichtungen dazu verpflichtet, für akute Krisensituationen, wie z. B. anhaltende Stromausfälle, Brände, Bombenfunde, Unwetter/Naturkatastrophen oder Pandemien, die Einfluss auf die Versorgung haben könnten, Vorsorgemaßnahmen zu treffen und diese mit den örtlichen Gefahrenabwehrbehörden abzustimmen.
Gemeinsamer Austausch über den aktuellen Stand
Um zu erfahren, wie die Einrichtungen mit diesen Anforderungen umgehen, aber auch um Unterstützungsmöglichkeiten für die Einrichtungen bei der Krisenvorsorge aufzuzeigen, hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zu dem Fachgespräch eingeladen. Dr. Martin Schölkopf, Abteilungsleiter „Pflegeversicherung und -stärkung“ im BMG eröffnete die Veranstaltung. Er betonte die Notwendigkeit klarer Rahmenbedingungen und appellierte an die Einrichtungen, die Krisenvorsorge nicht als bürokratische Last, sondern als essentielle Maßnahme zur Sicherung der Versorgungsqualität zu verstehen. Er verwies dazu auf Szenarien, in denen Pflegeeinrichtungen, abgesehen von der Corona-Pandemie, akut von Krisen betroffen waren und teilweise dramatische Erfahrungen machen mussten. Dazu gehörte beispielsweise das Hochwasser im Ahrtal. Mit einem Krisenkonzept, das solche Notfalllagen adressiert, seien Einrichtungen z.B. in Hochwasser-Risikogebieten besser gewappnet, wodurch auch Menschenleben gerettet werden können.
Im Zentrum des Fachgesprächs standen dabei folgende Fragen:
Die Berichte aus der Praxis zeigten: Viele Einrichtungen haben sich bereits auf den Weg gemacht und Krisenkonzepte entwickelt, um bei Gefahrensituationen schnell und effektiv reagieren zu können. Gleichzeitig berichteten die Einrichtungsvertreter von praktischen Herausforderungen. Nur ein kleiner Anteil der Einrichtungen fühlt sich laut einer Blitz-Umfrage des AWO-Bundesverbandes gut in das kommunale Krisenmanagement eingebunden. Die meisten sehen sich hingegen als isoliert und unzureichend von den Katastrophenschutzbehörden unterstützt und die Abstimmung mit den Behörden auf Kreisebene gestaltet sich oft als schwierig, da auch dort die Bearbeitung dieses Bereichs lange nicht priorisiert wurde. „Oft sind die Zuständigkeiten in den Kommunen nicht klar. Das führt dazu, dass Informationen nicht weitergegeben werden, Schritte nur sehr unkonkret bleiben und im schlimmsten Fall Verantwortungen auf die Einrichtungen abgewälzt werden“, berichtete ein Einrichtungsleiter des Deutschen Roten Kreuzes. Unklare Zuständigkeiten, so die Einrichtungsvertreter, erschwerten auch den Austausch und die Koordination mit den Katstrophenschutzbehörden vor Ort und die Refinanzierung von strukturellen Maßnahmen.
Zudem könne die Wahrnehmung der Pflegeeinrichtungen und Pflegenden als Akteure im Krisenfall geschärft werden. „Wir müssen den Begriff ‚Gesundheitswesen‘ viel stärker auch auf die Pflege ausweiten“, sagte ein Vertreter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, „Katastrophenschutz hört nicht an der Kliniktür auf, sondern die Pflege ist eine essenzielle Säule des Gesundheitswesens.“
Hilfestellung und Lösungsansätze
Um stationäre und ambulante Einrichtungen der Langzeitpflege in Vorbereitung auf Krisensituationen möglichst konkret zu unterstützen, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) Handreichungen entwickelt. Ergänzend steht unterstützendes Praxismaterial wie Checklisten, Notfallpläne und Musteranschreiben zur Verfügung, die je nach Bedarf auf die Gegebenheiten vor Ort angepasst werden können.
Eine Repräsentantin des AWO-Bundesverbandes gab während des Fachgesprächs einen Überblick zur aktuellen Nutzung und Bewertung der Handreichungen. „Die weit überwiegende Zahl der Einrichtungen, die die Handreichungen nutzen, bewerten diese als sehr hilfreich“, fasste sie zusammen. Was sich Einrichtungen wünschten, seien vor allem:
Wissen zur Krisenvorsorge in der Pflege verstetigen
Dass in den Einrichtungen oftmals noch Wissen über Krisenprävention fehle, erklärte eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes. „Bei vielen gibt es noch offene Fragen zur Zielsetzung von Krisenkonzepten und zur Priorisierung verschiedener Szenarien“, erläuterte sie. „Das heißt, dass wir das Wissen zur Krisenvorsorge langfristig verstetigen und auch in die Grundausbildung [von Beschäftigten in der Pflege] integrieren müssen.“ Verschiedene Informationsangebote wie zum Beispiel die BAGFW-Handreichungen oder spezielle Fortbildungskurse in Einrichtungen sollen bewirken, dass sowohl Pflegekräfte als auch Verantwortliche für Krisenkonzepte besser ausgebildet werden, um den Anforderungen in Krisensituationen gerecht werden zu können.
Im Bereich der ambulanten Pflege ist die Etablierung von Krisenvorsorgekonzepten bisher schwieriger. Von einem Mitarbeiter der Charité wurden Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt „Aufrechterhaltung der ambulanten Pflegeinfrastrukturen in Krisensituationen“ (AUPIK) vorgestellt. Hierzu gehört unter anderem, dass Pflegekräfte viel stärker in die Erstellung der Krisenkonzepte eingebunden werden sollten, dass eine gute sozialräumliche Vernetzung wichtig ist, dass vorab eine Priorisierung der Versorgung erfolgen sollte (Wer benötigt täglich Hilfe? Wer kann zunächst auch über Angehörige versorgt werden?) und dass eine Weiterversorgung z. B. auch in Notunterkünften funktionieren muss. Eine wichtige Frage ist, wie in einer Krise ambulant versorgte pflegebedürftige Menschen kontaktiert und aufgesucht werden können, und wie viele von diesen technikabhängig sind (Stichwort: Beatmung). In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass im Rahmen einer Privatinitiative eine Plattform erstellt wurde, auf der sich ambulant versorgte pflegebedürftige Menschen, Pflegeeinrichtungen, Pflege-WGs etc. registrieren können, damit in Krisensituationen Rettungskräfte Informationen zum Hilfebedarf dieser Menschen schnell verfügbar haben. Dieses Notfallregister ist über den Link www.notfallregister.eu erreichbar.
Ein eindrucksvolles Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Pflegeeinrichtungen und Katastrophenschutzbehörde ist das „Berliner Muster-Notfallhandbuch“, das gemeinsam von Beteiligten aus Pflege, Katastrophenschutz und Verwaltung entwickelt wurde. „Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass der Katastrophenschutz vor ein paar Jahren noch wenig Wissen von der Pflege hatte“, berichtete der Katastrophen- und Zivilschutzbeauftragte des Bezirksamtes Berlin Lichtenberg. Vor diesem Hintergrund hat er 2022 einen gemeinsamen Workshop mit Pflegeeinrichtungen initiiert. „Er hat uns sehr konkret Aufschluss zu den realistischen Rahmenbedingungen von stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen gegeben“, so die Rückmeldung aus den einbezogenen Pflegeeinrichtungen. Aus dem Workshop ist das Muster-Notfallhandbuch hervorgegangen, das den Einrichtungen nun als praktisches Instrument zur Vorbereitung auf Ereignisse wie Stromausfälle, Evakuierungen (z. B. wegen Entschärfung von Kriegsbomben), Ausfall der Müllabfuhr oder andere Störungen der Infrastruktur dient und im Katastrophenfall wichtige Informationen und Handlungsanweisungen für alle Beteiligten an einem zentralen Ort bündelt. Darüber hinaus legt es organisatorische Maßnahmen fest, um in Notfallsituationen verfügbare Ressourcen effizient einzusetzen und die Versorgung in der Einrichtung möglichst solange sicherzustellen, bis professionelle Hilfe verfügbar ist. Dass Pflegeeinrichtungen eine Zeitlang die Versorgung ohne Hilfe von außen aufrechterhalten können, verschaffe dem Katastrophenschutz die nötige Zeit, um die eigenen Mechanismen ans Laufen zu bringen und sich zunächst um akute Situationen zu kümmern. Dazu enthält das Muster-Notfallhandbuch unter anderem Richtlinien zur Bevorratung von Lebensmitteln und Medikamenten sowie Pläne für Evakuierungen und die Notfallkommunikation. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Kommunikation zwischen Pflegeeinrichtungen und Behörden, um im Krisenfall effizient zusammenzuarbeiten. „Insgesamt hat uns dieses gemeinsame Projekt gezeigt, wie wichtig eine enge Kommunikation, Verständnis und ein hohes Maß an Pragmatismus sind, um Krisenschutz und -bewältigung in der Langzeitpflege als eine gemeine Herausforderung zu begreifen“, so der Katastrophen- und Zivilschutzbeauftragte.
Mehr Infos zum Berliner Muster-Notfall-Handbuch
Fazit: Krisenresilienz ist ein gemeinsamer Weg
Das Fachgespräch hat gezeigt: Krisenresilienz in der Langzeitpflege ist eine Gemeinschaftsaufgabe und das Bewusstsein dafür steigt – wenn auch nicht überall im notwendigen Maß. Zwar haben die meisten Einrichtungen mittlerweile ein Krisenkonzept „in der Schublade“. Aber umso intensiver die Vorbereitung innerhalb der Einrichtung selbst, aber auch in der Zusammenarbeit mit Behörden und insbesondere dem Katastrophenschutz läuft, desto besser funktioniert die Kommunikation auch während einer Krisensituation. Zukünftig ist daher insbesondere eine noch stärkere Vernetzung zwischen den Einrichtungen und den Katastrophenschutzbehörden sowie auch anderen Akteuren im Sozialraum erforderlich. Nur durch die enge Zusammenarbeit aller Beteiligten, eine gemeinsame Definition von Zuständigkeiten und Abläufen, einen regelmäßigen Austausch sowie die Vermittlung und Verstetigung von Wissen lässt sich die Krisenresilienz in der Langzeitpflege nachhaltig verbessern. Wichtig ist auch, dass die Gesellschaft insgesamt auf Krisensituationen vorbereitet ist, damit sich die Helfenden in der akuten Krise auf die vulnerablen Gruppen konzentrieren können.