Rund 100 Interessierte trafen sich am 22. November 2024 in der Akkon Hochschule in Berlin, um die Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Modellvorhaben, Projekten und Initiativen zu hören, die jede ihren eigenen Weg der „autonomen Pflege“ in der Praxis erprobt haben. Die Kernfrage lautete: Wie muss sich ambulante Pflege heute aufstellen, um den steigenden Herausforderungen gewachsen zu sein? 

An verschiedenen Orten in Deutschland wurden in den letzten Jahren selbstorganisierte Pflegeteams, vor allem in der ambulanten, zum Teil aber auch in der stationären Akut- und Langzeitpflege aufgebaut. Sie wollen die Attraktivität des Pflegeberufes steigern, die Handlungskompetenzen von Pflegenden ausweiten, das Empowerment der Pflegebedürftigen sowie deren An- und Zugehörigen stärken und Ressourcen auf kommunaler und regionaler Ebene heben, um so einen wirkungsvollen Beitrag zur langfristigen Sicherstellung der pflegerischen Versorgung zu leisten. Zudem ist das Thema der autonomen Pflegeteams nicht nur auf den ambulanten Sektor beschränkt, sondern hat inzwischen auch Einzug in stationäre Einrichtungen und in Krankenhäusern gehalten – angesichts der Anforderung vieler Häuser, dem Personalmangel entgegenzuwirken und Ansätze des ‚New Work‘ in den Arbeitsalltag zu integrieren. Die unterschiedlichen Ansätze zusammenzuführen, das war die Motivation der Veranstalter für den Fachtag – maßgeblich vorangetrieben durch die Initiative von Martin Schnellhammer, Leiter des „Living Lab Wohnen und Pflege“ an der Hochschule Osnabrück sowie Professor Andreas Büscher, Pflegewissenschaftler an der Hochschule Osnabrück, unterstützt durch Fördergelder des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Organisatoren zeigten sich hochzufrieden über die hohe Zahl der Teilnehmenden aus dem gesamten Bundesgebiet und nahmen dies als Bestätigung, dass das Interesse an neuen Versorgungsmodellen in der Pflege groß ist. 

Einflussfaktoren auf die häusliche Pflege im Überblick
Zum Einstieg stellte Prof. Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) klar, dass die künftige Entwicklung der häuslichen Pflege von sehr unterschiedlichen Faktoren und Rahmenbedingungen abhängig ist. So legen seine Auswertungen einerseits eine insgesamt gute regionale Abdeckung der ambulanten Pflege nahe, andererseits könne in einzelnen Kreisen eine Unterversorgung auch nicht ausgeschlossen werden. „Regionale Unterschiede und heterogene Entwicklungen zwingen zu regionalen Lösungen.“, lautete sein Fazit. Darüber hinaus zeige die Berufsdemografie mit den mehrheitlich älteren Beschäftigten in der Pflege, dass ein Aufbau an Kapazitäten im ambulanten Bereich – selbst bei politischem oder regionalem Willen – nicht so ohne weiteres passieren kann, da schon der Renteneintritt der Babyboomer-Generation eine so große Lücke im Bestand reißt, die nur knapp mit dem bisherigen Ausbildungsniveau zu schließen sein werde. „Wir haben jetzt allein in der ambulanten Pflege [BDC-4B1] ungefähr 24.000 Pflegende, die 61 Jahre alt sind und gesichert in vier Jahren oder früher in Rente gehen werden. Das ist eine Bugwelle, mit der wir umgehen müssen und die nicht mehr verrückbar ist“, betonte Isfort. Dies sei vor allem mit Blick darauf herausfordernd, dass über die Personalbemessungs-Regeln bestimmte Positionen ausgebaut werden sollen, aber de facto hierfür das entsprechend ausgebildete Personal fehle. 

Positiv hob der Pflegewissenschaftler aber hervor, dass beruflich Pflegende nur sehr selten in andere Berufsfelder eintreten und selbst die Abwerbung von der ambulanten Pflege in den Krankenhausbereich statistisch gesehen keine signifikante Größe darstelle. Gleichwohl sei der überwiegende Teil der Auszubildenden in der Pflege im Krankenhaus angesiedelt. Dies müsste langfristig noch mehr ausgeglichen werden, insbesondere aufgrund der noch nicht abzuschätzenden Folgen der nun beschlossenen Krankenhausreform, sagte er. „Wir müssen aber davon ausgehen, dass hier in einigen Regionen zentrale Ausbildungsträger für die Pflege langfristig wegfallen.“ 

Regionale Versorgungsstrukturen neu denken
All diese Daten machen es aus Sicht von Michael Isfort unumgänglich, regionale Versorgungsstrukturen komplett neu zu denken und hier am jeweiligen Bedarf und den vor Ort tätigen Diensten und Einrichtungen auch neue Formen der Zusammenarbeit in der Pflege zu denken. Damit lieferte Michael Isfort die perfekte Überleitung in den von Martin Schnellhammer und Prof. Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück initiierten Austausch zum Stand der Entwicklung von autonomen Pflegeteams in Deutschland. Über den Tag verteilt fanden mehrere parallele Workshops statt, in denen die Teilnehmenden über ganz konkrete Initiativen und Ansätze diskutieren konnten. 

Dass die Idee der autonomen Pflegeteams – geprägt durch das 2006 in den Niederlanden gegründete Buurtzorg-Modell– auch in Deutschland umgesetzt werden kann, wurde anhand der über den Tag verteilt vorgestellten Projekte und Initiativen deutlich. Denn im Grundsatz waren sich die Anwesenden einig, dass die Zukunft der Pflege nur mit einem solchen Konzept der integrierten, ganzheitlich denkenden ambulanten pflegerischen Versorgung langfristig zu meistern ist – unterstützt durch den 2017 eingeführten neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. 

Gleichwohl zeigten die hiesigen Erfahrungen, dass es große Hürden in der praktischen Umsetzung von hierarchiefreien, selbstorganisierten Pflegeteams gibt – sei es aufgrund der regionalen Strukturen oder der in Deutschland durch das SGB V und XI vorgegebenen Vergütungsmodelle von pflegerischen Leistungen. Das war auch ein Kern-Ergebnis der wissenschaftlichen Evaluation der in den vergangenen Jahren geförderten Modellprojekte: Die Analyse habe viele unterschiedliche Organisationsformen in der regionalen Praxis aufgezeigt, sodass eine übergeordnete Auswertung nur schwer möglich gewesen sei. Während einige Beispiele – wie das Autonome Pflegeteam Heide – doch mit etlichen Herausforderungen in der Praxis zu kämpfen hatten, berichteten andere – wie das Projekt „Pflege ganz aktiv“ der Caritas im Westerwald – von durchweg positiven Erfahrungen. 
 

Beispiel in Schleswig-Holstein: Das Autonome Pflegeteam Heide

Wie ambivalent die Modellprojekte in der Praxis sein können, zeigte unter anderem ein Umsetzungsbeispiel aus Schleswig-Holstein. So berichtete Horst Michaelis, Geschäftsführer der Mook we gern gGmbH, ein Tochterunternehmen der Stiftung Mensch, über den Aufbau eines autonom arbeitenden Pflegeteams in Dithmarschen – und war an vielen Stellen selbstkritisch: „Wir wollten eine Revolution betreiben, haben uns aber permanent selbst überfordert.“ 

Die Grundidee des durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren und das Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung in Schleswig-Holstein von 2020 bis 2022 geförderten Modellprojekts war zunächst durchweg positiv: die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen in den Fokus nehmen und mit ihnen die Pflegemaßnahmen aushandeln, Zeit als Basis der Handlung und Vergütung nach Stundensatz, keine Hierarchien im Team und selbstständige Organisation von Klienten im Netzwerk – alles auch mit dem Ziel, die Qualität in der Pflege zu verbessern und den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen. „In der Realität hatten wir aber mit der Tatsache zu tun, dass Pflege defizitorientiert wahrgenommen wird, und es viel Zeit braucht, bis Pflegebedürftige ihre Bedarfe formulieren und auch Angehörige bereit sind, diese zuzulassen.“, berichtete Michaelis. Für viele sei die Pflege der sprichwörtliche ‚Anfang vom Ende‘ und bis hier der Kulturwandel der autonomen Pflege greifen könne, brauche es Geduld. Auch die Zusammensetzung des Teams gestaltete sich schwieriger als gedacht, nicht alle wollten die ihnen neu übertragene Verantwortung auch annehmen und der Ansatz der Selbstorganisation bedinge, dass das entsprechende Team auch sehr gut miteinander kommunizieren könne. „Wir haben sehr lange gebraucht, hier überhaupt erst einmal die richtigen Menschen zusammenzubringen.“, so Michaelis. Auch war Corona als besondere Herausforderung eine zusätzliche Barriere bei der Durchführung des Projekts. 

Herausforderungen: Überforderung und Wirtschaftlichkeit

Das Fazit fällt daher gemischt aus: „Wir haben unterschätzt, was diese neuen Ansätze in der Praxis bedeuten Der parallele Aufbau eines unterstützenden Nachbarschaftsnetzwerkes oder Quartiersmanagements sei zum Teil kaum möglich gewesen. Der Geschäftsführer sieht aber immer auch andere Aspekte: Es gab natürlich trotzdem sehr viele positive Effekte auf Seiten der Pflegebedürftigen, weil die gezielte Aktivierung und Förderung der Selbstständigkeit zu sichtbaren Verbesserungen bei den Klientinnen und Klienten führte. Zudem war die Arbeitszufriedenheit bei den beteiligten Kolleginnen und Kollegen sehr hoch, nachdem sich die Teams gefunden und einen Arbeitsmodus für sich entwickelt hatten. Arbeitsausfälle durch Krankheit waren extrem selten und konnten stets selbstständig ausgeglichen werden. 

Aus Geschäftsführer-Perspektive sei der Aufwand jedoch enorm hoch gewesen, dieses Projekt innerhalb der drei Jahre ins Laufen zu bekommen. Eine solide wirtschaftliche Basis konnte in dem Zeitraum nicht geschaffen werden, musste Michaelis eingestehen. Eine Überführung in den Regelbetrieb sei für ihn daher nicht möglich gewesen. Gleichwohl wurde auch sichtbar: „Unsere anderen, wie bisher arbeitenden Kolleginnen und Kollegen haben sich von dem Projekt-Team letztlich einiges abgeschaut: von der selbstständigen Arbeitsorganisation bis hin zum Umgang mit den Klientinnen und Klienten.“ Auch wurde inzwischen die Rolle der Pflegedirektion neu gedacht und mehr Selbstständigkeit in der Planung der Mitarbeitenden im gesamten Pflegedienst eingeführt.

 

Beispiel im Westerwald: „Pflege ganz aktiv“ der Caritas

Im Projekt der Caritas im Westerwald berichteten die Verantwortlichen auf dem Fachtag durchweg positiv von ihren Erfahrungen und zeigten, dass es wirtschaftlich möglich ist, das Zeit-Vergütungsmodell in ambulanten Pflegediensten umzusetzen. Im Modellprojekt "Pflege ganz aktiv" wird darauf verzichtet, die Pflegeleistung des ambulanten Pflegedienstes, der Caritas-Sozialstation Westerburg-Rennerod, nach kleinteiligen Einzelleistungen zu berechnen. Vergütet wird stattdessen die eingebrachte Pflegezeit sowie nach Vergütungspauschalen. Mit dem Abrechnungssystem verändere sich auch der Blick auf die pflegebedürftigen Menschen, wie Caritas-Vorständin Stefanie Krones vor Ort berichtete: Statt sich an einem vorgegebenen Aufgabenkatalog zu orientieren, würden die Pflegekräfte die ihnen anvertrauten Menschen ganzheitlich wahrnehmen und sich auf die Unterstützung konzentrieren, die für die Pflegebedürftigen am jeweiligen Tag am wichtigsten ist. Dabei werden auch die Angehörigen und das Umfeld einbezogen. Im Sinne des Modelltitels "Pflege ganz aktiv" werden auf diese Weise nicht nur die pflegebedürftigen Menschen selbst aktiviert, sondern darüber hinaus auch Ressourcen mobilisiert, die bisher nicht genutzt wurden. „Dass diese Arbeitsweise, situativ orientiert an der eigenen fachlichen Kompetenz und individuell an den Wünschen der Menschen, von uns gründlich vorbereitet und intensiv begleitet wurde, dürfte einer der wichtigen Erfolgsfaktoren sein.", so Krones.  Das Projekt wird umgesetzt durch den Caritasverband Westerwald-Rhein-Lahn in Kooperation mit den Kranken- und Pflegekassen unter der Federführung der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland. Das rheinland-pfälzische Sozialministerium und das dortige Gesundheitsministerium begleiten das seit 2022 laufende Projekt.

Die Erfahrungen aus diesen und anderen beim Fachtag vorgestellten Initiativen verdeutlichten die Vielfalt und Herausforderungen der praktischen Umsetzung einer „Caring Community“ und die mit diesem Kulturwandel verbundenen komplexen Anforderungen an die professionelle ambulante Pflege. Die Anwesenden waren sich einig, dass es für eine langfristige Orientierung in diese Richtung wesentlich sei, dass die Selbstständigkeit und die Kompetenzen der beruflich Pflegenden weiter gestärkt werden und Gesetzesinitiativen wie die des Pflegekompetenzgesetzes und die Entwicklung eines neuen Berufsbilds Advanced Practice Nurse (APN) trotz angekündigter Neuwahlen unbedingt weiter verfolgt werden sollten. 

Hintergrund zum gesetzlichen Rahmen

„Die Zukunft der häuslichen Versorgung liegt in einer generationenübergreifenden und pflegefreundlichen Umgebung, eben der Caring Community“, machte auch Nadine-Michèle Szepan, Leiterin der Abteilung Pflege im AOK-Bundesverband, deutlich. Dazu gehöre dann aber auch, die zeitliche Vergütung der Pflege gesetzlich zu normieren und den Rahmen für erweiterte Handlungsautonomien in der Therapieprozessverantwortung sowie bei der Verzahnung mit Pflegeprozessverantwortung zu setzen. Auch gelte es, verschiedene Bedarfe der Pflegebedürftigen bei der Aushandlung von Rahmenverträgen zu berücksichtigen, die teils dauerhaft, teils vorübergehend sein können.

Szepan verwies darauf, dass bereits die Expertenkommission zur Beschreibung pflegerischer Aufgaben in den Rahmenverträgen zu folgendem Schluss kam: „Nach dem heutigen Pflegeverständnis ist es nicht mehr sinnvoll, die Hilfen in Form abschließend definierter Listen – die Einzelmaßnahmen aufzählen - aufzugliedern. Vielmehr wird das Augenmerk auf pflegerische Aufgaben gerichtet, die an der Unterstützung der pflegebedürftigen Menschen und ihrer An- und Zugehörigen flexibel an deren Bedürfnissen sowie aktuellen Problem- und Bedarfslagen auszurichten sind.“ Sie zeigte sich optimistisch, dass es hier langfristig zu einer Weiterentwicklung der Regelungen im Sozialrecht kommen werde, auch die Krankenkassen seien dazu im intensiven Austausch mit dem Bundesministerium für Gesundheit. 

Am Ende der Veranstaltung war klar: Die eine Lösung für die autonome Pflege gibt es nicht, und Herausforderungen gibt es (noch) viele. Vom Enthusiasmus und Optimismus, die Pflege auf diese Weise trotzdem langfristig zu verändern, ließen sich die meisten anwesenden Teilnehmenden nicht abhalten.

Was bleibt nach dem Fachtag? „Wir haben uns dazu entschlossen, den Beteiligten aus den Projekten und den am Thema Interessierten eine Plattform für den weiteren Austausch zu bieten.“, berichtet Martin Schnellhammer im Anschluss an die Veranstaltung. Vor diesem Hintergrund sei nun die Organisation und der Aufbau eines eigenen Netzwerks geplant. Die Gründungsveranstaltung wird am 12. Dezember in Osnabrück stattfinden – ganz nach dem Motto: „Gemeinsam sind wir stärker.“ 

Wir im Pflegenetzwerk Deutschland halten Sie gern über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden!