Gewalt in der Pflege ist ein Tabuthema. Dennoch passiert sie. Wo die Ursachen dafür liegen und warum Gewaltschutzkonzepte sowie ein sensibler Umgang mit allen Beteiligten notwendig sind.
„Wir gehen davon aus, dass es eine recht hohe Dunkelziffer an Gewaltereignissen im Pflegebereich gibt“, sagt Dr. Simon Eggert. Aus seiner Arbeit als Geschäftsleiter Forschung und Kommunikation des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) hat er einen guten Einblick in die Praxis: „Gewalt in der Pflege kommt häufiger vor als gedacht – sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege – und ist ein komplexes Phänomen.“ Das fängt schon damit an, wer Opfer von Gewalt wird: Es trifft zum einen pflegebedürftige Menschen, aber auch die beruflich Pflegenden sowie Pflegebedürftige untereinander, wenn sie innerhalb einer betreuten Gemeinschaft leben. Aus Sicht der Expertinnen und Experten sind vor allem ältere und an Demenz erkrankte Menschen betroffen. Ihre Abhängigkeit und Verletzlichkeit setzen sie einem erhöhten Risiko aus, so Eggert. Eine große Schwierigkeit für alle Beteiligten ist die Kommunikation: Betroffene schweigen oft aus Scham, Unsicherheit oder Unfähigkeit, darüber zu sprechen. Das macht Gewalt schwer messbar. Für Eggert ist klar: Viele Vorfälle werden nicht erkannt oder gar zur Anzeige gebracht, auch weil es häufig an einem gemeinsamen Verständnis des Begriffs ‚Gewalt‘ fehlt. „Ist es schon Gewalt, wenn ich bei einem unkooperativen Pflegebedürftigen weniger behutsam bin? Wenn Einlagen gewechselt werden müssen? Wenn er sich gegen die Einnahme notwendiger Medikamente wehrt“, fragt Eggert und betont: „Solche Fragen verdeutlichen, wie wichtig es ist, den Begriff ‚Gewalt‘ in der Pflege differenziert und sensibel zu betrachten.“
“Glücklicherweise beobachten wir, dass Wahrnehmung und Sensibilität für das Thema größer werden.”
Der wissenschaftliche Diskurs zu Gewalt in der Pflege findet zunehmend Gehör. Forschende wie Eggert sind fest davon überzeugt, dass in jeder Organisation ein gewisses Gewaltrisiko besteht. Eine Ursache liegt in den unterschiedlichen Machtverhältnissen der Beteiligten, insbesondere in Pflegebeziehungen. Die Forschung belegt aber, dass Organisationen mit ihren Strukturen, Kulturen und Interaktionsmustern dazu beitragen können, ob Gewalt entsteht oder vermieden wird. Die Empfehlung an Führungskräfte lautet daher: Bestehende Asymmetrien lassen sich nicht auflösen. Sie müssen jedoch immer wieder reflektiert werden. Dafür wurden vom ZQP kostenlose Arbeits- und Schulungsmaterialien für die Pflege entwickelt. Sie sensibilisieren für das Thema und können zur Stärkung von Gewaltprävention eingesetzt werden.
Eggert betont, dass es ein Verständnis davon braucht, welche Gewaltformen es gibt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) reicht das Spektrum von körperlicher und psychischer Gewalt über Vernachlässigung bis hin zu finanzieller Ausbeutung und sexualisierter Gewalt. Worte, Gesten, Unterlassungen – all das kann, ob unbewusst oder böswillig, bereits Gewalt sein.
“Lange war es in der Pflege selbstverständlich, Übergriffe still hinzunehmen – als Teil des Berufsalltags.”
Heikel ist es auch, so Eggert, wenn die Selbstbestimmung von Pflegebedürftigen verletzt wird, etwa durch Bevormundung oder freiheitsentziehende Maßnahmen. Die Gründe und Ursachen für Gewalt gegen Pflegebedürftige sind vielschichtig. Auf persönlicher Ebene können Faktoren wie Stress, Erschöpfung oder ein unzureichendes Bewusstsein für Gewalt eine Rolle spielen. Auf struktureller Ebene gelten Personalmangel, Zeitdruck oder nicht gut funktionierende Teams als mögliche Auslöser. Gleichzeitig kann herausforderndes Verhalten der Pflegebedürftigen selbst Eskalationen auslösen – etwa Aggressivität, massive Unruhe oder Enthemmung bei der Versorgung von dementiell erkrankten Menschen oder anderweitig kognitiv eingeschränkter Pflegebedürftiger. Der Expertenrat lautet hier: Prävention geht vor Eskalation. Führungskräfte sollten sich um Gewaltschutzkonzepte bemühen sowie einen Blick auf die passende Zusammensetzung der Teams richten.
Auch die Kultur zählt: Eine klare Haltung für gewaltfreie Pflege, offene Kommunikationsräume und eine Kultur, die Gewalt ernst nimmt. Fazit: Durch ein Zusammenspiel von Sensibilisierung, Schulung und anderen strukturellen Maßnahmen kann der Schutz pflegebedürftiger Menschen nachhaltig gestärkt werden.