Im seit 2017 geltenden Pflegeverständnis steht der pflegebedürftige Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen, seiner individuellen Lebenssituation und seinen individuellen Beeinträchtigungen und Fähigkeiten im Mittelpunkt. Welche Auswirkungen das auf die Rahmenverträge für die ambulante Pflege hat, diskutierten Expertinnen und Expertinnen in einem Workshop.
Seit 2017 gelten ein Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein Begutachtungsinstrument, die sich stärker an den Bedürfnissen jedes einzelnen Menschen, an seiner individuellen Lebenssituation und an seinen individuellen Beeinträchtigungen und Fähigkeiten orientieren. Auf dieser Grundlage erhalten alle Pflegebedürftigen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung, unabhängig davon, ob sie von körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen betroffen sind.
Die Pflege richtet sich seitdem stärker darauf aus, die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen möglichst lange zu erhalten und zu fördern. Dieses Pflegeverständnis wirkt sich in der Praxis auf verschiedene Handlungsfelder aus: von der Beratung über die Arbeitsorganisation bis hin zur Darstellung von Leistungsinhalten in Vereinbarungen. Gerade für den letzten Punkt ist es wichtig, pflegerische Aufgaben auch in den Landesrahmenverträgen der Pflegeselbstverwaltung zu beschreiben. Eine Expertengruppe mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Recht, Praxis, Trägerverbänden und Pflegekassen hatte dafür Empfehlungen erarbeitet. Im Workshop zum Thema stellten Claus Bölicke vom AWO Bundesverband e. V. und Nadine-Michèle Szepan vom AOK Bundesverband e. V., Matthias Gack von der AOK Bayern und Carsten Adenäuer von der bpa-Landesgeschäftsstelle Niedersachsen die Ergebnisse vor. Hier die Impulsvorträge:
Körperbezogene Maßnahmen behalten durchaus ihre Bedeutung. Hinzu tritt aber besonders das Ziel, dass die pflegerischen Maßnahmen dazu dienen, dass die Pflegebedürftigen bestimmte Handlungen wieder selbstständig durchführen oder unter Anleitung selbstständig erlernen können. Denn der Erhalt oder die Verbesserung von Selbstständigkeit ist insbesondere in der häuslichen Umgebung nicht allein durch praktische Übungen zur Stärkung der körperlichen oder anderer Fähigkeiten zu erreichen. Voraussetzung ist vielmehr Eigenaktivität, die nicht durch Hilfen bei Verrichtungen, sondern besonders durch Anleitung, Aufklärung und Beratung gefördert werden kann. Außerdem umfasst es die Anleitung von Angehörigen, die Krisenintervention oder koordinierende Hilfen zur Aufrechterhaltung einer sicheren, individuellen Versorgungsumgebung.
Pflege bedeutet nicht, dauerhaft kompensatorisch etwas zu übernehmen, was die Pflegebedürftigen nicht mehr können. Es geht vor allem auch darum, Selbstständigkeit zu ermöglichen. Das bedeutet, dass eine flexible Erbringung von Leistungen möglich sein soll, da auch bestimmte, temporäre Aufgaben in Zukunft wichtiger werden, um zum Beispiel in krisenhaften Versorgungssituationen akut tätig zu werden, den Aufbau einer Versorgungssituation zu unterstützen, weitere Hilfen zu koordinieren oder die Nutzung von Pflegehilfsmitteln anzuleiten.
Auch in Zukunft werden Leistungen vereinbart und festgehalten. Der Beratungsprozess im Vorfeld soll jedoch ausführlicher gestaltet sein. Das Ziel ist, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu stärken sowie Unterstützungsbedarfe genau zu erkennen und zu definieren. Dafür müssen Pflegekräfte das gesamte erweiterte Spektrum an Unterstützungsmöglichkeiten des Pflegeversicherungsrechts im Blick haben. Es geht also um eine Kompetenzerweiterung im Beratungsbereich.
Für den Steuerungs- und Verständigungsprozess im Team ist die Pflegefachkraft verantwortlich. Sie muss darauf achten, ob die ausführende Person den Maßnahmenplan umsetzen kann oder gegebenenfalls weitere Anleitung und Fortbildungen benötigt.
Es ist ein weiter Weg, bis der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wirklich in der Praxis ankommt. Wichtig ist zum jetzigen Zeitpunkt, dass Kostenträger und Leistungserbringer einen Konsens entwickeln, wie das neue Pflegeverständnis in den Landesrahmenverträgen umzusetzen ist. Das wirkt sich dann auch auf den Personaleinsatz vor Ort aus.
Anleitung ist nach Definition der Expertengruppe die Vermittlung oder begleitete Einübung von einzelnen Fertigkeiten oder Verhaltensweisen. Dies ist nicht zu verwechseln mit „praktischen Tipps oder Hinweisen“, die auch weiterhin während eines Pflegeeinsatzes im häuslichen Bereich den pflegebedürftigen Personen und Angehörigen vermittelt werden. Auftrag und Zielstellung von Anleitung und Edukation zur Stabilisierung der häuslichen Versorgungssituation oder der Selbstpflege müssen mit der pflegebedürftigen Person vereinbart und abgestimmt sein. Diese eigenständige Leistung kann im Einzelfall in einem Pflegeeinsatz integriert sein oder im Rahmen von gesonderten (zum Beispiel im Rahmen eines gezielten individuellen Schulungsprogramms) Hausbesuchen stattfinden.
Es handelt sich um Empfehlungen der Expertengruppe. Eine gesetzliche Verbindlichkeit ist nicht gegeben. Allerdings sind die Empfehlungen von Vertretern wichtiger Verbände sowohl der Kostenträger wie der Leistungserbringer auf Bundesebene gemeinsam erarbeitet worden. Die Idee ist, Rahmenvertragspartner konstruktiv dabei zu unterstützen, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff zunehmend in die Praxis zu transportieren.
Den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Praxis umzusetzen, ist ein Prozess. Jede Einrichtung muss ihren eigenen Weg finden und herausfinden, was sie sich zu welchem Zeitpunkt zutraut. Es ist jedoch wichtig, sich mit dem Perspektivwechselauseinanderzusetzen und einen gemeinsamen Konsens zu finden. Die Anpassung der Landesrahmenverträge ist dafür ein erster Schritt.
Wenn man an einem Rädchen eines Vertragswerkes dreht, hat das auch Auswirkungen auf die anderen. Eine Option kann sein, in Zukunft weniger auf Leistungskomplexvereinbarungen, sondern auf Einzelleistungsvereinbarungen oder solche mit Zeitvergütung zu setzen. Dafür muss die Absprache einer Zeitvergütung natürlich auch für die Leistungserbringer attraktiv gestaltet werden, damit sie großflächig zum Einsatz kommen kann. Das ist ein zusätzlicher Schritt, der von den Vertragspartnern in einigen Bundesländern noch gegangen werden muss.