Ein Interview des Pflegenetzwerk Deutschland mit Prof. Klaus Müller von der Frankfurt University of Applied Sciences (hier in Auszügen).
Herr Professor Müller, viele Pflegekräfte erleben in ihrem Beruf fehlende Anerkennung. Wie erklären Sie sich das?
Pflege ist ein Beruf auf der Schattenseite des Lebens, da, wo wir alle nicht gerne hinschauen. Nicht mehr autonom über seine eigenen Grundbedürfnisse entscheiden zu können, das ist etwas, was wir alle nicht haben wollen. Wir sind alle glücklich, wenn wir ohne Unterstützung leben können. Das ändert sich allerhöchstens, wenn ich dauerhaft von dieser Unterstützung abhängig bin. Erst dann komme ich vielleicht an den Punkt, wo ich zu einer Pflegefachkraft sagen kann „Danke, dass es Sie gibt“. Das ist das Dilemma. Während die ärztliche Disziplin quasi der Gesunderhaltung dient und dieses Heilen als große Überschrift hat, hat die Pflege eine solche Überschrift eben nicht.
Wie wirkt sich das auf die Kommunikation im Pflegealltag aus?
Im Erleben von Sprachlosigkeit in Bezug auf die Dienstleistung. Es wird auf der einen Seite anerkannt, dass Hilfe geleistet wird, andererseits gibt es eine Sprachlosigkeit in Bezug auf die Bewertung dessen. Vieles was Pflegende tun, wird als Zumutung erlebt – von Pflegebedürftigen und Außenstehenden. Beispielsweise die Assistenz beim Toilettengang als Unterstützung und nicht als Verlust oder als Defizit zu erleben, das ist sicher etwas, was nicht jeder Mensch von jetzt auf gleich schafft. Und es erklärt auch, warum Pflegefachkräfte immer wieder zu hören bekommen: „Was, du bist Pflegeperson? Das könnte ich nicht!“.
Die Handlungen der Pflegenden sind für viele Menschen schwer vorstellbar, weil sie in einem Lebensbereich stattfinden, der in einem hohen Maße mit Intimität und Peinlichkeit verbunden wird. Ich glaube, dass die Herausforderung darin liegt, eine Darstellung dieser Arbeit zu finden, die besprechbar ist.
Sie entwickeln und erproben Schulungen für Pflegekräfte, damit diese über ihre Kompetenzen zu sprechen lernen. Was führt zu der Annahme, dass Pflegekräfte hier überhaupt einen Bedarf haben?
Darauf lässt die Berufsgeschichte der Pflege mit dem stillen, dienenden Ordensschwesternideal schließen. Menschen haben sich damals aus barmherziger Nächstenliebe anderer Menschen angenommen, die Unterstützung brauchten. Als Entlohnung dafür akzeptierten sie die Liebe Gottes. Das heißt, die alte Krankenschwester las den Patientinnen und Patienten die Wünsche von den Augen ab, sprach nicht darüber, sondern tat. Man hat damals über diese Unterstützung auch nicht öffentlich gesprochen, weil diese Themen – von Ausscheidung bis Sexualität – erst im letzten Jahrhundert überhaupt in der Gesellschaft besprechbar geworden sind.
Wir brauchen aber eine Sprache über Pflege, über die Dienstleistung. „Was machen wir eigentlich?“. Diese übergeordnete Kommunikation ist aufgrund der Berufsgeschichte bislang nicht gut entwickelt, und auch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben dabei nicht unterstützt. Mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurde ein Verrichtungskatalog zugrunde gelegt und bewertet. Es war zwar gut, dass damals erstmalig überhaupt eine Erfassung von Pflege erfolgte. Gleichzeitig war es auch ein Bärendienst, weil Pflege degradiert wurde zur „Verrichtung“. Zum Glück sind wir dabei, diesen Weg wieder zu verlassen. Denn: Es geht in der Pflege nicht vorrangig um Verrichtungen, sondern um Kompetenzen.
Dennoch – wenn wir heute eine Pflegefachkraft fragen „Erzähl mal, was machst du so in deinem Beruf?“, dann bekommen wir ganz häufig jede Menge Verrichtungen als Tagesablauf geschildert. Also in der Art: „Wenn ich morgens komme, dann haben wir erstmal Dienstbesprechung. Dann, halb sieben, viertel vor sieben, gehen wir los zu den Patienten bzw. Bewohnerinnen, dann waschen wir die, dann anziehen, dann Frühstück. Dann kommt die Visite und dann Pflegerunde und Verbandswechsel. Und dann Mittagessen. Zwischendrin gehen wir natürlich auf die Klingel und begleiten Menschen zur Toilette.“
Wie würde eine Pflegefachkraft ihren Arbeitstag schildern, wenn sie Kompetenzen statt Verrichtungen beschreibt?
Das ist Gegenstand unseres Forschungsvorhabens „KoWeP – Kompetenzkommunikation und Wertschätzung in der Pflege“, das jetzt im Januar 2021 angelaufen ist. Wir versuchen herauszufinden: „Was sind die sinngebenden Momente dieses Berufsbildes? Ich schlage dafür als sehr bedeutsame Säule den Aspekt des intentionserhaltenden Lebens vor. Also, dass Pflege es Menschen möglich macht, ihr Leben in ihrem Sinne stimmig weiterzuleben, indem Pflegende das kompensieren, was die Person nicht mehr alleine kann, und zwar in der gewohnten Art und Weise dieses Menschen.
Eine zweite wesentliche Säule der Pflege ist es, Sicherheit herzustellen. Wenn es einem Menschen schlecht geht, dann ist Pflege häufig die Berufsgruppe, die als erstes da ist. Sei es in der ambulanten Pflege, sei es im Altenpflegeheim und selbst im Krankenhaus. Der Patient klingelt. Wer geht? Es geht nicht der Arzt oder die Ärztin dorthin, sondern es geht eine Pflegeperson, bewertet die Situation und entscheidet, was zu tun ist, zum Beispiel ob ein Arzt gerufen werden muss, oder auch lebensrettende Maßnahmen einzuleiten sind. Dafür bekommt Pflege aber keine Anerkennung.
Wir versuchen herauszufinden: Was sind die sinngebenden Momente dieses Berufsbildes?
Wenn man sich beispielsweise Pflege in der Klinik betrachtet, dann könnte man – anstatt Verrichtungen aufzuzählen – den Arbeitsablauf auch so erzählen: „Wenn ich zum Dienst komme, dann bin ich verantwortlich für das Leben einer Anzahl X Menschen in diesem Versorgungsbereich.“ Und je nachdem, wie das organisiert ist, es gibt ja Primary-Care-Konzepte: „Ich bin für diese Menschen zuständig von der Aufnahme bis zur Entlassung. Das ist eine Mega-Verantwortung, die ich da habe, alles zu koordinieren, damit diese Menschen bedarfs- und bedürfnisgerecht versorgt werden.“ Aber so sprechen Pflegefachkräfte leider meist noch nicht.
Variiert der Grad der gesellschaftlichen Anerkennung nicht auch von einer Pflegedisziplin zur anderen – beispielsweise wenn man die Altenpflege mit der Pflege auf einer Intensivstation vergleicht?
Was wir auch international sehen ist, dass die Wertschätzung von Pflege oft verbunden wird mit dem Akutheitsgrad von Erkrankungen, medizinischen Interventionen und der Nähe zu ärztlichem Handeln. Wenn ich zentrale Venenkatheter lege oder eigenständig Schmerzmedikamente gebe, dann werden dem Beruf Kompetenzen zugeschrieben über Technik und Medizinnähe. Was dem Pflegeberuf aber eigentlich zustünde, ist eine Aufwertung durch die soziale Kompetenz, die Beziehungskompetenz der Pflegenden. Das ist das, was Pflege ausmacht und Pflegende ganz besonders gut können. Das Beziehungsmanagement, die Förderung von Selbstmanagement, die Begleitung in Krisen. Das ist das Versprechen von Pflege, und das wird professionell nicht anerkannt. Jeder Psychotherapeut, jeder Psychologe bekommt dafür ein hohes Maß an Anerkennung, sozial und unter Umständen auch Wertschätzung im Sinne von Geld. Aber bei der Pflege ist das sozusagen all-inklusive, dazu heißt es dann: Bei der Arbeit wird ja sowieso mit dem zu pflegenden Menschen gesprochen.
Klar. Pflege wäscht auch den Rücken und reicht den Apfelsaft an, aber das dient einem höheren Ziel: Sicherheit herstellen, Wohlbefinden fördern und soviel Autonomie und Selbstbestimmung wie möglich ermöglichen. Und das ist etwas, was wir sichtbarer machen müssen.
Welches Potenzial steckt in der Kompetenzkommunikation, um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Arbeitszufriedenheit in der Pflege zu erreichen?
Wenn ich sage „Ich begleite Menschen auf die Toilette“, dann ist damit eine andere emotionale Schwingung verbunden, als wenn ich sage „Ich ermögliche Menschen ein selbstbestimmtes Leben.“ Das eine fühlt sich eher klein an, das andere eher groß. In dem Moment, wo ich lerne, groß über das zu sprechen, was ich tue, habe ich ein anderes Selbstwirksamkeitserleben. Ich habe mehr Berufsstolz. Und wenn ich diesen Berufsstolz nach außen trage, dann verändert sich die Wahrnehmung dieses Berufes in der Gesellschaft.
Gleichzeitig führt es nach innen, in den Einrichtungen und Teams, zu einer anderen Anerkennungskultur. Es gibt einen positiven Kreislauf, der dann auch wieder die Arbeitsbedingungen verbessern kann. Denn wenn ich Anerkennung bekomme, kann ich meine Arbeitsbedingungen und das, was mich ausmacht, stärker gestalten.
Dafür muss sich der Sprachgebrauch der Berufsgruppe langfristig ändern. Unser Konzept wird ein erster Schritt sein. Danach kommt es darauf an, dass sich die Einrichtungen, die Berufsgruppe damit anfreundet. Wir müssen auch in Übergaben oder in Teamsitzungen und Besprechungen im Management lernen, anders über Pflege zu sprechen.
Das gesamte Interview finden Sie auf der Seite des Pflegenetzwerks